Veranstaltung am 16. Dezember 2013
Die Künstlerkolonie Worpswede ist für die rund 100 „Jungen Senioren“ im Hans-Rießer-Haus wohl ein Begriff, und viele verbinden damit auch bestimmte Farbbilder. Über die Entstehung dieser legendären Künstlerkolonie sowie ihre maßgeblichen Künstler und deren Schaffen informierte anschaulich und kompetent die Löwensteiner Kunsthistorikern Dr. Martina Kitzung-Bretz (Foto).
„Ah, das ist die Paula“, meinten einige Besucher/innen, als das erste Bild auf der großen Leinwand auftauchte – ein Selbstbildnis von Paula Modersohn-Becker aus dem Jahr 1906, das heute im Kunstmuseum Basel zu finden ist. Es ist eines – aber wohl bekanntestes – von insgesamt über 30 Selbstporträts jener Künstlerin, die man am ehesten mit Worpswede in Verbindung bringt. „Dargestellt in vereinfachenden Formen mit kräftiger Konturierung, in gedämpfter, erdiger Farbigkeit, dazu expressiver Ausdruck.“ So Kitzing-Bretz, die hervorhob, dass Paula Modersohn-Becker in einem auch für die Worpsweder Künstlergemeinde eigenständigen Stil malte, der sie zur Vorläuferin und Wegbereiterin des deutschen Expressionismus machte. Das gelte auch für ihre stimmungsvolle Landschaftsmalerei mit breitflächig angelegten, großzügigen Farbkompositionen und frontalem Bildaufbau, wohl auch unter dem Einfluss der französischen Maler Paul Cézanne und Paul Gauguin, deren Werke sie bei ihren Studienaufenthalten in Paris kennen gelernt hatte.
Jene 1876 in Dresden geborene Paula Becker verbrachte 1894 mit ihren Eltern anlässlich deren Silberhochzeit erstmals die Sommerferien in dem niedersächsischen Dorf Worpswede, 25 km nordöstlich von Bremen. Seitdem war sie begeistert von dieser naturbelassenen Landschaft am Rande des Teufelsmoors und der ganzen Atmosphäre einer jungen Künstlerkolonie. Der eigentliche „Entdecker“ Worpswedes war der Maler Fritz Mackensen, der seinen Kommilitonen und Künstlerfreund Otto Modersohn 1889 auch zum Umzug nach Worpswede bewog. Ihnen folgten die Kunststudenten Hans am Ende und Fritz Overbeck; auch Heinrich Vogeler gehörte dazu.
Paula Becker, eine junge begabte Malerin, hatte als Frau keinen Zugang zur staatlichen Kunstakademie gefunden. Um ihre Kunst zu vervollkommnen, nahm sie die Gelegenheit zu einem Studium an einer renommierten privaten Kunstschule in Paris wahr – die ersehnte Möglichkeit, sich mit der zeitgenössischen modernen Kunst zu beschäftigen. Insgesamt war sie viermal mehrere Monate in Paris (1900, 1903, 1905, 1906), kehrte aber immer wieder nach Worpswede zurück. 1901 heiratete sie den elf Jahre älteren Künstlerkollegen Otto Modersohn, der aus erster Ehe eine Tochter hatte. Diese Elsbeth hat Paula Modersohn-Becker auch in einem berühmten Bild porträtiert („Mädchen mit Perlenkette im Haar“). 1907 war sie schwanger, bekam eine Tochter, doch sie selbst starb noch im November am Embolie in Worpswede.Der befreundete Bildhauer Bernhard Hoetker schuf für sie 1910 ein eindrucksvolles Grabmal, das sie mit Kind symbolisiert.
Paula Modersohn-Becker hat zahlreiche Bilder von Kindern und auch von ländlichen Frauen gemalt, aber noch mehr stimmungsvolle Landschaftsbilder, mit Katen im Moor oder Kähnen auf Moorkanälen. Doch von den über 700 Gemälden, die sie in wenigen Schaffensjahren gemalt hat, konnte sie höchstens eine Handvoll verkaufen. Erst durch eine posthume Ausstellung ihrer Gemälde erhielt Paula Modersohn-Becker die ihr gebührende nationale und internationale Anerkennung.
Auch wenn Martina Kitzing-Bretz vor allem Paula Modersohn-Becker herausstellte, würdigte sie auch insgesamt die Avantgarde der Künstlerkolonie Worpswede, deren Maler insbesondere eine realistische, flächig und linear vereinfachte Personen- und Landschaftsdarstellung entwickelten. So verwies sie auf Monumentalbilder von Otto Modersohn („Gottesdienst im Freien“, 4.30 x 2,85 m), und Heinrich Vogeler („Sommerband“, 3,10 x 1,75 m). Vogeler (1872-1942) lebte auf dem Stattlichen „Barkenhoff“, der heute – restauriert -eindrucksstark die Spannweite von Vogelers Schaffen vom Jugendstil über Expressionismus bis zum sozialistischen Realismus dokumentiert; im Kulturort Worpswede gibt es heute mehrere Museen und Galerien. Im gleichen Jahr wie die Modersohns heirateten auch Vogeler (Martha Schröder) und der österreichische Schriftsteller Rainer Maria Rilke (1875-1926), die Bildhauerin Clara Westhof, die er in Worpswede kennengelernt hatte, wo sie auch freundschaftliche Beziehungen zu den Modersohns und Vogelers pflegten.